Wertschöpfung touristischer Destinationen zwischen Erholungsraum und Erlebnisraum


Der Wandel bestimmter touristischer Destinationen im Alpenraum wird durch die zunehmende Kommerzialisierung, Inszenierung und Entfremdung vormals naturnaher oder authentischer Orte charakterisiert.


Zu Beginn war der Alpenraum in erster Linie ein Erholungsraum. Touristische Orte in den Alpen entwickelten sich im 19. Jahrhundert als Rückzugsorte der bürgerlichen, z.T. internationalen Gesellschaftsgruppe, die in der Berglandschaft Ruhe und Gesundheit suchte. Der Raum diente der Regeneration und Kontemplation – Naturerleben und Stille standen im Vordergrund.
Mit der zunehmenden Erschließung und Vermarktung wandelte sich der Alpenraum zum Erlebnisraum. Destinationen mussten sich im internationalen Wettbewerb profilieren und begannen, ihre Angebote zu diversifizieren: Action-, Kultur- und Selfie-Erlebnisse traten an die Stelle des reinen Naturgenusses. Orte wie Interlaken oder Chamonix vermarkten sich heute gezielt als „Adventure Capital of Europe“, mit Paragliding, Canyoning oder Skydiving als touristischen Leitprodukten. Auch der Pragser Wildsee in Südtirol, Königsee, Eibsee oder der Brienzersee sind Beispiele für diese Transformation: Durch soziale Medien avancierten sie zu einem Symbol des Erlebnisraums Alpen, in dem nicht mehr das Naturerlebnis, sondern das visuelle Erlebnis und seine Teilbarkeit in sozialen Netzwerken im Vordergrund stehen.

Berg- und Kulturlandschaft als Social Media-Kulisse

Berner Oberland, Oktober 2025. Eigene Aufnahme





Im Extremfall führt dies zur Entwicklung von "alpinen Rummelplätzen". Dieser Begriff beschreibt den Verlust von Authentizität zugunsten einer vollständig inszenierten und konsumorientierten Umgebung. In Luzern etwa prägen inzwischen Touristenströme, Luxusboutiquen und Selfie-Hotspots das Stadtbild, während lokale Alltagsräume zurückgedrängt werden. Am Pragser Wildsee wurde durch Besucherlenkung, Absperrungen und Inszenierungen versucht, die Folgen massenhafter touristischer Nutzung zu kontrollieren – ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Ort seine ursprüngliche Natürlichkeit verloren hat und zu einer kulissenhaften Attraktion geworden ist.
Die Entwicklung vom Erholungsraum zum Erlebnisraum steht somit sinnbildlich für den Wandel touristischer Räume unter dem Einfluss des Overtourism und der sich damit verändernden Gästestruktur. Je stärker der Druck steigt, Erlebnisse zu bieten und Aufmerksamkeit zu erzeugen, desto mehr verliert der Raum seine ursprüngliche Identität und wird zu einem Produkt, das auf Inszenierung, Steuerung und Konsum basiert.


Erholungsraum oder Erlebnisraum: Ungleiche Wertschöpfung


Die Entwicklung vom Erholungsraum zum Erlebnisraum im Alpenraum spiegelt sich nicht nur in den touristischen Leitbildern, sondern auch deutlich in der Struktur und Verteilung der wirtschaftlichen Wertschöpfung wider. Beide Formen des Tourismus generieren Einkommen für die regionale Wirtschaft, unterscheiden sich jedoch erheblich in ihrer Tiefe, Stabilität und lokalen Verankerung.


Im klassischen Erholungsraum-Tourismus, der in vielen Alpenregionen bis heute prägend ist, steht die Erholung in der Natur, die Ruhe und das langfristige Aufenthaltsverhältnis der Gäste im Mittelpunkt. Besucherinnen und Besucher verbringen vergleichsweise mehr Tage an an einem Ort, übernachten in kleinen Hotels, Pensionen oder Ferienwohnungen und konsumieren lokale Produkte und Dienstleistungen. Dadurch entsteht eine breit gestreute Wertschöpfung, von der insbesondere kleine und mittlere Betriebe profitieren: Hotels und Restaurants, Handwerksbetriebe, Supermärkte, lokale Lebensmittelproduzenten, Bauernhöfe und Dienstleister im Freizeit- oder Gesundheitsbereich. Das erwirtschaftete Einkommen bleibt zum großen Teil in der Region, und es bestehen enge Verflechtungen zwischen Tourismus, Landwirtschaft, Handwerk und lokaler Infrastruktur. Diese Form des Tourismus gilt daher als vergleichsweise stabil und nachhaltig, da sie auf langfristigen Beziehungen, Authentizität und regionaler Identität beruht sowie eine gewisse Resilienz gegenüber Krisen in anderen Regionen der Welt zeigt.


Der Erlebnisraum-Tourismus hingegen ist stärker kommerzialisiert, inszeniert und auf kurzfristige Erlebnisse ausgerichtet. Orte, die sich zu Erlebnisräumen entwickelt haben, versuchen, durch Events, Aktivitäten und mediale Sichtbarkeit neue Besuchergruppen anzuziehen. Die Aufenthaltsdauer der Gäste ist hier oft deutlich kürzer, teilweise beschränkt sie sich auf Tagesbesuche oder wenige Stunden. Damit verschiebt sich auch die Struktur der Ausgaben: Statt für Unterkunft und längeren Aufenthalt wird vor allem für Eintritt, Transport und einzelne Erlebnisse gezahlt. Davon profitieren vor allem große, kapitalintensive Anbieter wie Seilbahngesellschaften, Freizeitparks, überregionale Eventveranstalter oder internationale Tour Operator. Die lokale Bevölkerung und der traditionelle Mittelstand – etwa kleine Hotels, Restaurants, Handwerker oder Lebensmittelgeschäfte – erzielen hingegen einen geringeren Anteil an der Wertschöpfung.
Hinzu kommt, dass Erlebnisräume häufig stark von Trends, Wetterbedingungen oder der medialen Aufmerksamkeit abhängen. Dadurch entsteht eine höhere wirtschaftliche Volatilität: Phasen intensiver Nachfrage können schnell von Rückgängen abgelöst werden, wenn ein Ziel an Attraktivität verliert oder andere Destinationen kurzfristig in Mode kommen. Auch die saisonale Konzentration ist im Erlebnisraum stärker ausgeprägt, was zu Überlastungen in Spitzenzeiten und geringer Auslastung in der Nebensaison führt. Die wirtschaftlichen Gewinne sind somit oft ungleich verteilt – einige wenige Akteure erzielen hohe Umsätze, während die breite lokale Wirtschaft kaum profitiert.


Wie kann die Identifikation der Touristen mit der Destination erhöht, somit die Nächtigungsdauer wieder verlängert und damit die Wertschöpfung gesteigert werden?

Je stärker Gäste eine Destination als authentisch, sinnvoll und persönlich bereichernd erleben, desto höher ist ihre emotionale Bindung, ihre Aufenthaltsdauer und damit die lokale Wertschöpfung. Entscheidend ist, dass Destinationen wieder „echte Orte“ mit spürbarer Identität werden – nicht bloße Kulissen, Rummelplätze oder Erlebnisparks.

Folgende Maßnahmen können dafür in Frage kommen:


1. Authentische und ortsbezogene Angebote entwickeln

  • Förderung regionaler Produkte, Küche, Handwerk und Kultur (z. B. Kooperationen mit lokalen Produzenten oder Bauern).
  • Storytelling über Geschichte, Tradition und Identität der Region – etwa durch Themenwege, Museumsprojekte oder persönliche Gastgebergeschichten.
  • Veranstaltungen mit lokalem Bezug statt standardisierter Events (z. B. Almabtrieb, regionale Märkte, Handwerksvorführungen).


2. Erlebnisqualität statt Erlebnisquantität

  • Entwicklung von Angeboten, die Erholung, Natur und Sinnhaftigkeit betonen (z. B. „Slow Tourism“, Achtsamkeit, Wellness mit regionalem Bezug).
  • Reduktion auf weniger, aber hochwertige und nachhaltige Erlebnisse, die emotionale Bindung erzeugen.
  • Förderung von Aufenthalten, bei denen Gäste aktiv Teil der Region werden (z. B. Teilnahme an landwirtschaftlichen Tätigkeiten, Kochkursen, Freiwilligenprojekten).


3. Stärkung der Gastgeberkultur

  • Schulung von Mitarbeitenden in der Hotellerie und Gastronomie im Bereich authentische Kommunikation, regionale Kompetenz und Gastfreundschaft.
  • Persönlicher Kontakt zwischen Gast und Gastgeber, z. B. durch Begrüßungsabende, Hausführungen oder Gastgebergeschichten.
  • Nutzung digitaler Plattformen, um persönliche Tipps und regionale Empfehlungen zu teilen.


4. Ganzjahresangebote und Diversifizierung

  • Entwicklung von saisonübergreifenden Produkten (z. B. Wandern, Kultur, Kulinarik, Gesundheit).
  • Kombination von Natur- und Kulturangeboten, um verschiedene Zielgruppen anzusprechen.
  • Zusammenarbeit zwischen Betrieben zur Schaffung thematischer Pauschalen (z. B. „Berg und Genuss“, „Kräuterwochen“, „Winterruhe im Tal“).


5. Nachhaltigkeit und Regionalität als Markenwert

  • Sichtbare Positionierung der Destination als nachhaltiger und verantwortungsvoller Tourismusort.
  • Zertifizierungen oder Gütesiegel (z. B. klimaneutrale Unterkunft, nachhaltige Anreise, regionale Wertschöpfungsketten).
  • Bewusstseinsbildung bei Gästen, dass ihr Verhalten direkten Einfluss auf Umwelt und Gemeinschaft hat.


6. Emotionale Markenbindung durch Kommunikation

  • Authentische Markenidentität der Destination entwickeln, die auf Werten wie Natur, Kultur, Gemeinschaft und Echtheit basiert.
  • Storytelling in sozialen Medien und Werbekampagnen, das Gäste emotional anspricht und Wiedererkennungswert schafft.
  • Einbindung von Gästen als Teil der Community (z. B. durch Social-Media-Kampagnen mit persönlichen Erlebnissen).


7. Digitalisierung sinnvoll nutzen

  • Digitale Gästekarten mit Zusatzleistungen (z. B. kostenloser Nahverkehr, Museumszutritt, regionale Vergünstigungen).
  • Online-Plattformen für personalisierte Empfehlungen basierend auf Interessen, Wetter oder Aufenthaltsdauer.
  • Nutzung von Datenanalyse, um Bedürfnisse der Gäste besser zu verstehen und Angebote individuell anzupassen.


8. Kooperationen auf regionaler Ebene

  • Zusammenschluss von Tourismusbetrieben, Gemeinden und Kulturanbietern zu gemeinsamen Erlebnisketten.
  • Entwicklung integrierter Mobilitätsangebote (z. B. Bahnanreise, Shuttle, Fahrradverleih), um den Aufenthalt stressfrei und nachhaltig zu gestalten.
  • Einheitliche Kommunikation und Markenführung innerhalb der Region.